Luther und die Vernunft

Luthers humanistische Zeitgenossen, wie Erasmus von Rotterdam, waren schon gedanklich weiter. Sie hatten die Gelehrten der Antike wiederentdeckt und standen auch neuen Gedanken wissbegierig und aufgeschlossen gegenüber. Für Erasmus hatte Gott dem Menschen einen freien Willen gegeben, um zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden.

Luther verharrte jedoch im frühen Mittelalter. Die Renaissance blieb ihm fremd. Für ihn galten nur der Glaube und die »Wahrheit« der Bibel, das aber heißt ausschließlich seine Lesart der Bibel.

Vernunft sei »des Teufels Hure«. Gegen die Philosophie, die rationale Reflexion des Menschen über sich und die Welt, sei folglich zu »wüten«.

Luthers Hass auf die Vernunft verkennt völlig, dass ihr Gebrauch auch eine unerlässliche Voraussetzung für die Gestaltung zukünftiger, vom Volke legitimierter und demokratisch konstituierter Gesellschaften ist – mit mündigen, weitgehend angstfreien und selbstbewussten Staatsbürgern, die sich bald dem Anarchismus ebenso widersetzen würden wie dem Despotismus absolutistischer Herrscher von Gottes Gnaden.

So ist Luthers Glaubensfundamentalismus genau das Gegenteil von Kants ermutigendem, in die Moderne weisendem Satz:

»Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«

Gerade heute, wo weltweit so viele blutige Kämpfe im Namen von Glaubensgewissheiten wüten, ist Kritikfähigkeit wie zugleich auch der Zweifel an eigenen Meinungen umso wichtiger.

Quellen:

Die Vernunft – des Teufels Hure

»Fürderhin lehret er (der Sündenfall) uns, was Frau Hulde, die natürliche Vernunft, zu diesen Sachen sagt, geradezu als wüssten wir nicht, dass die Vernunft des Teufels Hure ist und nichts kann denn lästern und schänden alles, was Gott redet und tut. Aber ehe wir derselben Erzhure und Teufelsbraut antworten, wollen wir zuvor unseren Glauben beweisen.«

(Luther Weimarer Ausgabe WA XVIII, 164)

Erlösung bringt nur der Heilige Geist

»Wer […] Christ sein will, der […] steche seiner Vernunft die Augen aus.«

(Martin Luther, Gesamtausgabe in 25 Bänden, hrsg. Von Johann G. Walch, Concordia Publishing House St. Louis 1880-1910, Band V, S.452)

Gegen die Philosophen

»Ich wenigstens glaube, Gott diesen Gehorsam zu schulden, gegen die Philosophie wüten […] zu müssen.«

(Luther Weimarer Ausgabe WA LV1371)

Luthers Fortschrittsfeindlichkeit

»Aber sie (die Ärzte) sehen nicht auf den Teufel als den Urheber der sonst natürlichen Ursache einer Krankheit […] Ich glaube, dass bei allen schweren Krankheiten der Teufel der Urheber und Anstifter ist.«

(Tischreden, Luther Deutsch, Band 9, a.a.O., Nr.678)

Kant statt Luther

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

(Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S.481–494)


Die humanistische Alternative:

Zehn Angebote des Evolutionären Humanismus